Zu einem medizinischen Einsatz nach Indien wollen wir aufbrechen
„Wir“: das sind Dr. André und Eva Borsche, unterstützt vom Anästhesisten Dr. Micha Danecke und der Chirurgin Dr. Laura Döring aus der Kreuznacher Diakonie , den beiden Anästhesistinnen Dr. Gabi La Roseé aus Essen und Dr. Carolin Towara aus Frankfurt, der OP Schwester Marianne van Deesten aus München, und -zum ersten Mal dabei- Physiotherapeutin Anna-Lena Herter aus Boos.
18 Koffer sind gepackt, medizinisches Gerät und Kuscheltiere sind verstaut, die letzten emails gehen zwischen Bad Kreuznach und unserem Zielort, einem kleinen indischen Krankenhaus hin und her:
-wie viele Pakete steriler Handschuhe lagern noch von unserem vorjährigen Einsatz dort?
-sind die blauen Kinderverbände noch da?
-wird die Nähstube rechtzeitig mit den OP-Kitteln und den Nachthemden für die Patienten fertig?
-die Ambulanzschwester dort wünscht sich 20 Tuben Arnikasalbe für ihre Patientenbesuche in den abgelegenen Dörfern …..
Auf beiden Seiten des Globus steigert sich von Tag zu Tag emsige Vorfreude.
Doch dann der Schreck!
Drei Tage vor unserer eigenen Abreise werden befreundete Kollegen, die zu einem ähnlichen Einsatz aufgebrochen sind, an der indischen Grenze zurückgewiesen, und kehren mit dem nächsten Flugzeug unverrichteter Dinge nach Deutschland zurück! Plötzlich waren all ihre Vorbereitungen umsonst! Ratlose Ärzte hier, enttäuschte Patienten dort. Auf beiden Seiten war mit einem Mal die mit Freude und Fleiß geleistete Vorarbeit sinnlos geworden.
Wir lauschen fassungslos lauschen dem Bericht unserer verzweifelten Freunde.
Wird es uns ebenso ergehen? Wie sollen wir das vermeiden?
Schnell reduzieren wir unser Gepäck um 3 Koffer auf das dringend notwendige. Der Rest wartet in Bad Kreuznach auf günstigere Zeiten….
Nur 8 Stunden Flugzeit und es ist soweit: das Flugzeug speit eine Riesenmenschenwolke aus, die von meandrierenden Geländern in 15 lange Schlangen vor den Einreiseschaltern gekämmt wird. Zentimeter für Zentimeter schiebt die Masse immer wieder stockend ihr Handgepäck vorwärts. Betont entspannt versuche ich mich dabei in eine Fachzeitschrift zu vertiefen, doch meine Hand zittert, und mein Herz schlägt bis zum Hals.
Nach vier Stunden ist der Schalter erreicht: Jetzt so ruhig und gelassen wie möglich wirken! Ein kleiner heiterer Gedankenaustausch mit dem Grenzbeamten, wir bringen unsere Hochachtung vor Kultur und spiritueller Tradition Indiens zum Ausdruck……
Fingerabdrücke… Dokumentenblättern…. Detailfragen…Stempel.., dann unbeteiligtes Durchwinken
– wir haben es geschafft!
Erleichtert und überglücklich werden wir von unseren indischen Freunden und den Krankenhausschwestern am Flughafenausgang in die Arme geschlossen.
Nach 4 Stunden Fahrt in einem alten Schulbus durch endlose Zuckerrohrfelder erreichen wir das von Ordensschwestern geleitete 300 Betten-Krankenhaus in der abgelegenen 400 000 Seelen Siedlung von Shevgaon.170 Patienten und sind euphorisch erleichtert, dass sie nicht umsonst auf unsere Ankunft gehofft haben. Meist Kinder und Frauen, erwarteten sie uns schon dicht gedrängt im Innenhof des Hospitals. Viele alte Bekannte erkenne ich in der Menge. Seit acht Jahren sind wir jedes Jahr für zwei Wochen zu Gast bei den Schwestern hier und einige Patienten sind seit dem ersten Mal dabei!
Damals glich unser OP eher einer Dunkelkammer ohne größere medizinische Ausrüstung. Doch wie tadellos sind die Hauttransplantate auch aus dieser Zeit eingeheilt und schenken den Patientinnen seit Jahren Arbeitsfähigkeit und gesellschaftliche Akzeptanz!
Inzwischen haben wir den Operationssaal etwas ausbauen lassen und Dank kontinuierlicher Spenden aus Kreuznach wurden Lampen, Operationstische, elektrische Koagulation und ein Hautentnahmegerät angeschafft. Auf diese Weise können wir pro Einsatz anstatt 50 ca. 100 Menschen helfen.
Während unserer Abwesenheit leisten diese Geräte gute Dienste bei der täglichen Basisversorgung von Schwerstverbrannten. Und davon gibt es hier viele:
In den kleinsten Hütten oder unter den blauen Plastikplanen, unter denen die Zuckerrohrschnitter mit ihren Familien den Sommer über leben oder am staubigen Straßenrand neben den Kleiderbündeln der Obdachlosen: überall ist der Kerosinkanister mit dazugehörigem wackeligen Kochgestell zu finden. Zu schnell erreichbar für kurz unbeaufsichtigte Krabbelkinder oder erhitzte Gemüter, die sich selbst oder unliebsame Angehörige in Flammen aufgehen lassen möchten.
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17 verbrennungsverletzten Kindern konnten wir dieses Mal ihre oft schon seit Jahren verkrüppelten Hände und Fingerchen wiederaufrichten. Für zwei Wochen müssen die Kleinen nach der Hauttransplantation im Krankenhaus bleiben, einige Verbandswechsel mitmachen und einen dicken Gips tragen. Doch freudiges Vertrauen und viel Mitgefühl im 12 Bettenzimmer helfen ihnen die Schmerzen und bösen Erinnerungen leichter zu ertragen.
12 Betten bedeutet, dass in diesem Raum vorübergehend ca. 35 Menschen leben. Jedes Kind braucht, um sich pflegen, versorgen und trösten zu lassen, Großeltern, Mutter oder kleine Geschwister, die in Hängematten unter den Betten schlafen.
Auch erwachsene Patienten kommen nie allein: zum Beispiel sind die aus Gründen, die wir nie erfahren werden, bis zur Unkenntlichkeit verbrannten jungen Frauen Tag und Nacht auf die Hilfe ihrer Familie angewiesen. Der Narbenzug der Brandwunden hat meist nicht nur das Kinn auf die Brust geschweißt, sondern auch Schultern, Ellenbeugen und Handgelenke verkrüppelt und jeden Bewegungsspielraum genommen. Nahrungsaufnahme oder Toilettengang sind seit dem Verbrennungsunglück nicht mehr ohne Hilfe möglich.
Dieses Jahr konnten wir 22 junge Frauen behandeln und so einer jeden wieder ein Stückchen Lebendigkeit zurückgeben. Bis zur völligen Funktionsfähigkeit wird es noch ein langer Weg sein.
Kalpana zum Beispiel kommt schon seit sechs Jahren jedes Frühjahr zur Operation, sodass wir nach und nach Hals, beide Schultern, Handgelenke, Ellenbeugen und Finger aufrichten konnten. Dieses Mal ächzt sie schon vor der Operation vor Schmerzen: ihr Mann hat ihr im Streit mit der Erntesichel einen tiefen Schnitt in die Flanke versetzt. Die äußere Wunde können wir säubern und versorgen, für die seelischen Wunden findet sie bei uns zumindest ein wenig Trost und Zuspruch.
Im Bett gegenüber liegt Sonali. Sie ist schon zum achten Mal bei uns. Leider hat sie schlechte Heilhaut, sodass wir schon einige schmerzhafte Wundinfektionen zusammen bewältigt haben. Doch dieses Jahr ist die verängstigte Schwerstverbrannte nicht wieder zu erkennen: über beide geflickten Wangen huscht ein glückliches Lächeln: wir sollen mal raten:…
oh nein….., sie muss doch mit der Lösung sofort herausplatzen: ja, sie ist verheiratet!!! Und was das für ein so gequältes und verlachtes Wesen wie unsere arme Sonali bedeutet, ist kaum zu ermessen. Jedenfalls gibt es dieses Mal für die Transplantate an Hals und Handgelenk keinerlei Heilungsstörung, und sie darf ausnahmsweise schon nach neun Tagen nachhause.
Im Nachbarzimmer liegt die 18jährige Aruna. Sie erscheint alt und ausgemergelt. Ihre Lippen sind durch Narbengewebe entstellt und die Mundöffnung ist seit einem Unfall in ihrer Kindheit bis auf ein winziges Löchlein zusammengeschrumpft. Wie sie sich ernährt, wissen wir ebenso wenig wie die genauen Umstände des Unglückes. Genauso wie die kleinen Kinder mit Lippenspalten hat sie gelernt, ihre Lippen zu verstecken und weint, wenn sie uns kurz unter ihren Schleier blicken lässt. Langsam, lange nach gelungener Operation, üben wir, nach und nach das schamhaft verhüllende Mundtuch wegzulassen und wieder zusammen mit anderen im großen Kreis lachend ihre Mahlzeiten einzunehmen.
Nach insgesamt 110 Operationen (viele angeborene Mißbildungen waren dieses Mal dabei) können wir beim großen Abschiedsfest auf einen mit mannigfaltiger Unterstützung gelungenen Einsatz zurückblicken.
Große Dankbarkeit bricht sich am letzten Abend in rührenden Gesten Bahn. Tränen auf beiden Seiten lassen in solch würdevollen Momenten der Menschlichkeit Schenkende und Beschenkte eins werden.
Eva Borsche