Beim Interplast Einsatz in Vietnam sind im Krankenhaus in Hue Wartezimmer und Gänge voll mit Patienten: leuchtende, erwartungs-, auch angstvolle Augen, viele Kinder verschiedenen Alters dabei mit Lippenspalten, Verbrennungen und handchirurgischen Problemen, die auf unsere Hilfe warten. Okay, also an die Arbeit. Jeden Tag nach den Operationen ist das Wartezimmer wieder voll mit neuen Patienten, so voll wie der Op-Plan für die ganze Woche.
Doch eines Nachmittags halten wir alle kurz inne. Zuerst kaum zu bemerken kommt eine schlanke, dunkel gekleidete Gestalt auf uns zu, ein junger Mann, halb versteckt hinter seinem Vater, der einen Weg durch die Menge bahnt. Erst als der junge Mann direkt vor uns steht, können wir sein schrecklich entstelltes Gesicht sehen. Der junge Mann heißt Hai und ist 20 Jahre alt, sagt der Vater.
Hai ist als Säugling in einen Topf mit kochend heißer Suppe gefallen, der auf dem Boden stand. Ein ganzes Jahr lang kämpften die vietnamesischen Ärzte um sein Überleben, schließlich blieb er am Leben. Mit Hilfe seiner Eltern und seiner ganzen Familie führte er dieses Leben, bis er 20 Jahre alt geworden war – ein Leben, von dem wir alle uns nicht vorstellen konnten und mochten, wie es wohl ausgesehen hat. Hai hatte keine Schule besucht, weil die Gleichaltrigen ihn „Monster“ nannten, ihn wegjagten, sobald er nur in ihre Nähe kam. Wieder und wieder sehen wir Hai´s Gesicht an und denken an die zwanzig leidvollen Jahre, in denen er zu dem Mann herangewachsen ist, der heute vor uns steht.
Hai´s Gesicht scheint eine einzige Narbe zu sein, der Mund, Unterlider und Nase sind nach unten zur Brust gezogen und auch der Brustkorb selbst ist schwer vernarbt. Die rechte Schulter ist nach vorne verdreht gewachsen und fesselt die rechen Wange an die Brust. Hai´s Knochen sind vom Säugling bis zum Mann gewachsen, aber die Narben konnten nicht mitwachsen, so dass nun seine Knochen vollkommen verformt sind. Ja, es fällt uns für Hai´s Aussehen kein anderer Begriff als „erschreckend“ ein. Und wieder kommen die Gedanken, was er wohl seit dem Unfall Unvorstellbares durchlitten, durchlebt und letztlich durchgestanden haben muss.
„Nein, wir können ihn hier in Vietnam nicht operieren, wir können wirklich nichts für ihn tun“. Unsere erfahrene und seit vielen Jahren engagierte Anästhesistin Isabelle, selbst Vietnamesin, spricht aus, was wir alle denken. „Es ist einfach unmöglich, eine derartige Operation unter den gegebenen Einsatzbedingungen auch nur zu erwägen. Es tut uns leid!“ Und sie spricht in diesem Sinne auch mit Hai und seinem Vater. Der schlägt zuerst sprachlos die Augen nieder und blickt zu Boden. Seinen Dank danach sagt er uns trotz seiner Enttäuschung mit tränenerstickter Stimme. Die beiden Gestalten entfernen sich langsam, und sie hinterlassen bei uns allen einen bitteren Geschmack. Schlechtes Gewissen? Nein, warum, die Entscheidung war objektiv richtig, sie war von allen gemeinsam getragen. Aber schmerzhaft ist es schon, so deutlich die Begrenztheit unserer Möglichkeiten vor Augen geführt zu bekommen, wo doch zu Hause unsere Möglichkeiten fast unbegrenzt sind.
Irgendwie schreibe ich mir ganz beiläufig Namen und Telefonnummer auf. In den folgenden Tagen sprechen wir immer wieder ganz beiläufig von Hai und seinem Schicksal, auch wenn wir unsere Arbeit wie geplant und ganz routiniert fortführen.
Eines Abends kommt mir ganz beiläufig der Gedanke, meinem Chef zuhause eine email zu schreiben mit den Fotos, die ich von Hai gemacht habe. „Chef, können wir da nicht doch irgendetwas tun?“ Postwendend die Antwort von André Borsche: „Organisiert ihm eine Flug und bringt ihn nach Bad Kreuznach!“ Staunen, eine Freude, die noch zaghaft ist, neu erwachte Hoffnung sehen wir in den Gesichtern unserer vietnamesischen Kollegen, als wir ihnen am nächsten Tag die Bereitschaft von Dr. Borsche eröffnen können, Hai in Bad Kreuznach zu behandeln – es ist ihnen nicht anders gegangen als uns. Und ungläubiges Staunen und wachsende Hoffnung in den Gesichtern von Hai´s Eltern, als sie nach tagelanger Busfahrt aus den heimatlichen Bergen wieder zu uns kommen:
„Alles was wir uns wünschen ist, dass Hai seinen Lebensunterhalt selbst bestreiten kann, wenn wir einmal tot sind“. Das sagt seine Mutter zwischen Tränen und Hoffnung – ihre Hände erzählen von einem Leben, bei dem die Wunden keine Zeit zum Heilen hatten. „Hai hat sein ganzes Leben vor dem Computer verbracht, alles, was er kann und weiss, hat er sich selbst beigebracht, immer von einem Wunder träumend. Vielleicht sind Sie ja dieses Wunder?“
Der weitere Ablauf gestaltete sich wirklich wie ein kleines Wunder: Prof. Hajo Schneck mit seinem Ebersberger Förderverein EFI war sofort bereit die Flüge von Hai zu übernehmen. Bei der Ankunft in der fremden Welt auf dem Frankfurter Flughafen wurde Hai von aus Vietnam stammende Freunden herzlich willkommen geheißen – und sie hielten ihm die ganzen vier Monate die Treue, die die Behandlung mit insgesamt acht Operationen letztendlich in Anspruch genommen hat.
So kam Hai Anfang August zu uns in die Plastische Chirurgie des Diakonie-Krankenhauses nach Bad Kreuznach, wo er liebevoll auf der Station 6C aufgenommen wurde. Zur ersten Operation reisten Dr. Günter Zabel, Plastischer Chirurg aus Schopfheim im Schwarzwald, zusammen mit seiner Frau, Op-Schwester Marianne Zabel, extra nach Kreuznach, um uns zu helfen. Schon das Einlegen des Beatmungsschlauches durch die Nase war für unsere Anästhesisten eine besondere Herausforderung, die sie exzellent meisterten. Mit Vorsicht konnten wir so die narbigen Verwachsungen an Brustkorb, Schulter, Hals und im Gesicht lösen. Gleich mehrere Operationen waren notwendig, um die riesigen Wundflächen mit körpereigener Haut zu decken, entnommen von Armen, Beinen, Gesäß und Rücken. Allein die Mundwinkel mussten wir mehrere Male erweitern, damit die vernarbte Mundöffnung für eine normale Nahrungsaufnahme groß genug wurde. Auch für die Wiederherstellung funktionierender Augenlider waren mehrere Hauttransplantate notwendig.
Zwischendurch sah es dann für Hai aber gar nicht so gut aus: Hai musste wegen einer schweren Lungenentzündung, die uns das Schlimmste befürchten ließ, mehrere Wochen lang auf der Intensivstation behandelt und künstlich beatmet werden. Allen Beteiligten, Schwestern, Pfleger und Ärzten, nicht zuletzt die vietnamesischen Freunden, die sich aufopfernd um ihn gekümmert haben, ist es zu verdanken, dass er diese kritische Phase überstanden hat – und natürlich weil Hai über einen besonders starken Lebenswillen verfügt. Allen Helfenden danken wir von Herzen für ihren Einsatz und für ihre fachliche und menschliche Kompetenz.
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Schließlich heilten alle Wunden und alle Hautverpflanzungen stabil ein und Hai kam wieder auf die Beine. Aber damit war die Behandlung noch nicht zu Ende: es folgte eine mehrwöchige intensive krankengymnastische Betreuung vor allem durch unserer Physiotherapeuten Christoph Klein, der Hai beibrachte, wie er seine 20 Jahre lang versteiften und nahezu bewegungsunfähigen Gelenke an Schulter, Armen und Wirbelsäule wieder aufrichten und einsetzen kann – ein Riesenschritt in Richtung eigenständiges Leben.
In dieser langen Zeit hatten sich zahlreiche vietnamesische Freunde aus der Umgebung zu einem Helferkreis zusammen gefunden, um eine kontinuierliche Begleitung für Hai zu gewährleisten, sei es bei der Narkoseeinleitung, sei es später auf Intensiv- sowie Normalstation, sei es nach der Entlassung oder während seines Aufenthaltes im Indochina-Restaurant im Kreuznacher Salinental, wo er kostenlos wohnen und essen durfte. All dies geschah mit einer Selbstverständlichkeit und Liebe, die uns alle zutiefst beeindruckt hat. Selbst die Gäste im Indochina-Palace waren nicht erschrocken, da Familie Pham klarstellte: „Er gehört mittlerweile zu uns!“ Ganz herzlichen Dank an alle helfenden Herzen und Hände: während der gesamten vier Monate fanden sich unermüdliche Helfer, die meisten aus der örtlichen vietnamesischen Gemeinde, wie Herr Kim Hoang Ngo, Frau My Ngoc Nguyen, Herr Cheng Duc aus Bad Kreuznach, Herr Si Bui aus Kirn, Frau My Nga und Herr Nghia Nguyen Huu aus Udenheim, aber auch aus weiter entfernten Orten, wie Frau Thi Vinh Do aus Frankenthal sowie Freunde aus Aschaffenburg und viele andere mehr. Sie alle standen als Ansprechpartner zur Verfügung, zum Dolmetschen und Kochen, als „Ausflugsservice“ ,der es auch möglich machte, dass Hai an den Wochenenden einmal dem Krankenhaus vorübergehend Lebwohl sagen konnte. Und wenn Trost oder Aufmunterung notwendig waren, konnten wir immer an Hai‘s Lächeln sehen, dass er sich gut umsorgt, verstanden und respektiert gefühlt hat, gerade auch von seinen Landsleuten in Deutschland.
Im Dezember organisierte dann der Helferkreis eine Abschiedsfeier mit 30 vietnamesische Gästen und es wurde deutlich, dass es jedem Einzelnen eine Herzensangelegenheit war, etwas beigesteuert zu haben, mit Hingabe und Liebe und gar nicht nur so ganz beiläufig. An uns alle gerichtet sagte Hai zum Abschied, er habe sein ganzes Leben nicht so viel Liebe empfangen und sich so geborgen gefühlt wie hier in Deutschland im Kreise seiner neu gewonnenen Freunde.
Die Großzügigkeit und Herzlichkeit der vietnamesischen Gemeinschaft war damit aber nicht beendet. Für die Zukunft von Hai in seiner Heimat ist die bestmögliche Vorsorge getroffen, ein Spendenaufruf hat eine Summe erbracht, die ihm helfen wird, nun endlich zur Schule zu gehen und danach einen Beruf zu erlernen. Frau My Nga und ihr Mann werden dafür sorgen, dass die Mittel nur und genau für diesen Zweck eingesetzt werden. So würde sich der von den Eltern geäußerte Wunsch doch noch erfüllen.
Und so endet meine Geschichte über Hai … für mich selbst rührend, tief emotional und lehrreich, weil ich Zeuge sein durfte, wie Menschen, die sich zuvor nie gesehen hatten, durch ein gemeinsames Ziel zu einer liebevollen, fürsorglichen, selbstlosen und engagierten – und zuletzt erfolgreichen – Gemeinschaft der Herzen zusammengewachsen sind. Und ich habe auch verstanden, dass manchmal ein flüchtiger, ganz beiläufiger Gedanke und eine beiläufige Geste, ein beiläufiges, leises „ja“ ein Schicksal ändern, vielleicht viel Leid ungeschehen machen können; vor allem, wenn viele solche zunächst beiläufige, unscheinbare, ganz leise „ja`s“ zusammen kommen. Das Wichtigste was ich persönlich von Hai gelernt habe: dass man Herzenswünsche nicht aufgeben soll. Irgendwann führt das Leben vielleicht die Umstände herbei, die die Erfüllung auch der größten Wünsche möglich machen.
Dr. Petronela Monticelli-Mayer
Oberärztin der Plastischen Chirurgie
Diakonie Krankenhaus Bad Kreuznach