von Simone Böll
Woche 1: Koffer auf.
Zu meiner ersten Begegnung mit dem Interplast Team Sektion Bad Kreuznach kommt es vor dem Hospital ProSalud. Es ist der erste Tag des bereits siebten Interplast-Einsatzes in der einwohnerstärksten Stadt Boliviens, Santa Cruz de la Sierra. Mit von der Partie sind Horst Aschoff (Plastischer Chirurg), Bassam Saka (MKG-Chirurg), Frank Lehmann (Allgemeinchirurg), die Anästhesisten Gunther Kranert (Teamleiter), Kay Lipka und Jens Kraßler sowie die OP-Pflegerinnen Hanka Wurzer und Daniela Hanl.
Ich, Medizinstudentin im 10. Semester an der Medizinischen Universität Wien, hatte das Team über Recherche im Internet aus simultanem Interesse an rekonstruktiver Chirurgie und humanitär-medizinischen Einsätzen in Entwicklungsländern gefunden. Und plötzlich stehe ich da, inmitten von halbgeöffneten Koffern, gefüllt mit dem medizinischem Material für die nächsten Einsatzwochen und das Abenteuer beginnt. Neben ihren Koffern, so lerne ich schnell, hat unser Team eine Menge an Erfahrung in medizinischen Hilfseinsätzen über den Globus hinweg, sowie eine ordentliche Portion Motivation für den bevorstehenden Einsatz mitgebracht.
Sogleich werde ich Teilhabende eines Spektakels, in dessen Genuss man im Medizinstudium wohl eher selten kommt: Wie wird ein OP-Bereich organisiert und eingeräumt, und das inmitten des Gewirrs eines lokalen bolivianischen Krankenhauses? Schon hier werden die Herausforderungen eines solchen Einsatzes im Kontrast zum streng reglementierten deutschen Klinikalltag klar.
Abends lernen wir unsere Gastfamilien kennen, lokale Bolivianer und deutsche Expats, die ihre Türen öffnen um uns während des Einsatzes freundlicherweise zu beherbergen.
Der zweite Einsatztag ist der Screening-Tag. Im Wartebereich des CERNIQUEM (Centro de Rehabilitación de Niños Quemados – oder zu deutsch: Rehabilitationszentrum für verbrannte Kinder) haben sich unzählige Patienten aller Altersstufen versammelt, um sich im Rahmen der als „Reconstruyendo Sueños“ (Träume wiederherstellen) titulierten Kampagne operieren zu lassen. Unterstützt von lokalen freiwilligen Helfern werden an diesem Tag alle angereisten Patienten untersucht und beraten, um festzustellen ob und welche Operation bei Ihnen im Rahmen dieser Kampagne machbar ist. Teils sind sie aus entlegenen Regionen Boliviens angereist. Wiedersehen macht Freude und so finden sich unter ihnen auch einige bekannte Gesichter, die bereits ein- oder mehrmals von unserem Team operiert wurden. Ist eine OP implementierbar, kommt es in Blitzeseile zur Statuserhebung, anästhesiologischen Aufklärung und OP-Termin-Festlegung. Mittels Portraitfotos werden die Patienten dokumentiert, und die OP-Pläne der nächsten zwei Wochen erstellt.
Am nächsten Tag geht es am Hospital ProSalud auch prompt mit der eigentlichen Operationsarbeit los. Das OP-Programm ist vielfältig und reicht von Verbrennungskontrakturen, Tumorresektionen und handchirurgischen Eingriffen über Hernien, Strumen, diverse kleinere Eingriffe bis hin zu Lippenspalten und Ohrrekonstruktionen. Mir gebührt dabei die Aufgabe, bei der Narkoseeinleitung und den Operationen zu assistieren, aber auch bei der Koordination und Organisation in diesem internationalen Team mitzuwirken. So gewinne ich neben spannenden chirurgischen Erfahrungen gleichzeitig einen Einblick in das Feld der Anästhesie und die koordinatorischen Herausforderungen eines solchen Auslandseinsatzes.
Erstaunlich schnell stellt sich ein effizienter Arbeitsfluss und eine vertraute Routine im Operationsalltag inmitten dieses bolivianischen Krankenhauses ein, wohl getragen durch die Motivation, Expertise und Erfahrung des Teams. Aber auch die tatkräftige Unterstützung durch zahlreiche Freiwillige – bolivianische Studenten, Ärzte, Pflegekräfte und Damen des lokalen Rotary Clubs trägt zum reibungsarmen Ablauf bei. Ich bin überwältigt von der positiven Stimmung in unserem deutsch-bolivianischen Team. Eine bereichernde Erfahrung, denn kommt es bei einem solchen Auslandseinsatz ja auch auf die Interaktion und Kollaboration mit den Menschen vor Ort an.
Viele von ihnen wurden akquiriert und motiviert von der bemerkenswerten Helga Richter, die 81-jährige gebürtige Berlinerin, Wahl-Cruzanerin und Superheldin hinter der Kampagne, die mit jugendlichem Spirit die Freiwilligen, das Projekt (und uns) vorantreibt. Ein großes Dankeschön von uns allen für ihre enorme Unterstützung!
Zweite Woche – oder: wie zieht man einen OP um? In der zweiten Einsatzwoche wird im CERNIQUEM weiteroperiert, hierfür muss unser gesamtes Equipment einmal quer durch die Stadt gebracht werden.
Dieses speziell für pädiatrische Verbrennungsopfer eingerichtete Zentrum bietet neben geräumigeren und komfortableren Patientenbetten auch Rehabilitationsräumlichkeiten und Nachmittagsbeschäftigung für die jüngeren Patienten, wodurch für sie und ihre Angehörigen eine schöne Erfahrung mit Möglichkeit auf Kontakt zu anderen Patienten mit ähnlichen Schicksalen entsteht.
Schließlich wird unsere zweite Einsatzwoche von gleich zwei Highlights geprägt. So werden wir staunende Zeugen der 1000. Operation von Interplast in Santa Cruz. Diese ehrenvolle Operation gebührt unserem Chirurgen Bassam, der in den Folgetagen die Zeitungscover von Santa Cruz ziert. Wir sind alle mächtig stolz und gratulieren Bassam recht herzlich!
Doch damit nicht genug: unser gesamtes Team wird für seine Leistungen in dem und den vorausgehenden Jahren zu „Visitantes distinguidos – Ehrengästen von Santa Cruz“ geehrt. „Ein kleiner Schritt für Santa Cruz, ein großer für uns (-Horst Aschoff ). Wir bedanken uns für die uns entgegengebrachte Ehre!
Nach 150 vollbrachten Operationen schnappen die Koffer zu. Der Abschied naht. Vor unserer Abreise erwartet uns eine Überraschung von Seitens der jungen Patienten und Volunteers, die uns mit selbstgestalteten Bannern, kleinen Geschenken und Liedern verabschieden. Bei dem Gedanken, das Team, die kleinen und großen Patienten, die man so schnell ins Herz schließt, wieder zu verlassen, muss ich mir glatt die eine oder andere Träne verkneifen. Und doch verlasse ich Santa Cruz mit einem wunderbaren Gefühl. Dankbar, Teil dieses großartigen Einsatzes gewesen sein zu dürfen, für das neu erlernte Wissen im OP, aber auch außerhalb des Krankenhauses, für die uns entgegengebrachte Gastfreundschaft, für Bolivien und neu geknüpfte Freundschaften.
Überwältigend an der Arbeit in Bolivien war für mich die Erfahrung zu machen, mit welch limitierten Mitteln erstaunliche Operationsergebnisse erzielt werden konnten.
Auch die Konfrontation mit medizinischen Fällen, wie man sie zu Hause nur selten zu sehen bekommt, bedingt durch die Armut und begrenzten medizinischen Ressourcen im Lande, haben mich deutlich geprägt und mir gleichzeitig den Antrieb des Teams verständlich gemacht, Jahr für Jahr in ihrer freien Zeit nach Santa Cruz zurückzukehren.
In diesem Sinne bedanke ich mich beim gesamten Team und allen Helfern für die tolle Zusammenarbeit, bei Gunther Kranert, mir die Teilnahme am Projekt zu ermöglichen und blicke bereits jetzt einem nächsten Einsatz gespannt entgegen.
Muchas gracias y hasta pronto!
Simone Böll